hundert jahre erster weltkrieg


Thun, 1. August [1915].

Der Krieg, der mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien seinen Ausgang nahm, entwickelte sich heute vor einem Jahr durch die Kriegserklärung Deutschlands an Russland und Frankreich zum Weltkrieg. Der Tag von gestern und heute kommt wieder in seiner ganzen Erschütterung in Erinnerung. Am 31. Juli Nachmittag die allgemeine Mobilisierung in Wien. Das Verhängnis seinen Lauf nehmend. Telegraph, Eisenbahnen, Post plötzlich versagend. Abends die Ermordung Jaurès'. Die heisere Begeisterung halbwüchsiger Burschen auf den Strassen Wiens. Ich durchlebte die Stimmung noch einmal, die mich erfüllt hat, als ich das für nicht mehr möglich Gehaltene sich vollziehen sah. An diesem Tage geschah es. Krieg Deutschlands gegen Frankreich und gegen Russland. Es geschah mit überstürzter Raschheit, so dass man ob der Aussichtslosigkeit einer Rettung, eines Vernunfteingriffes verzweifelte. Es gab einfach keinen Ausweg mehr. Die Regiekünstler des Krieges triumphierten. Die Vernunft schwieg. Heute dauert die Katastrophe, die einem, damals nur auf einige Monate berechnet, schon schrecklich genug vorkam, ein Jahr, und es ist noch keine Aussicht auf ein Ende.

Wir müssen die Gedächtnisartikel der Schmöcke über uns ergehen lassen, die uns dartun wollen, was uns dieses Jahr Grosses gebracht hat, wie wir uns selbst gefunden und selbst erkannt haben. Welche Gnade hat doch der Krieg über uns ausgegossen!

Aus Anlass des Jahrestages des Kriegsausbruches hat der Papst eine Enzyklika erlassen, "um den väterlichen Ruf nach Frieden auszustossen":


"Im Namen des Heiligen Gottes, im Namen unseres Vaters und Herrn im Himmel, im Namen des gesegneten Blutes Jesu, des Preises der Erlösung der Menschheit, beschwören wir die kriegführenden Völker bei der göttlichen Vorsehung, dem entsetzlichen Blutbad, das seit einem Jahr Europa entehrt, von nun an ein Ende zu machen. Es ist Bruderblut, das man zu Lande und zu Wasser vergiesst... Die schönsten Gegenden Europas, dieses Gartens der Welt, werden mit Leichen und Ruinen übersät."

Ein warmer Ruf zur Besinnung. Es scheint aber, dass der Abdruck in den Blättern der kriegführenden Länder nicht gestattet ist. Ich habe ihn noch nirgends gelesen. Man lässt dort den Krieg nicht durch die wahre Schilderung seines Wesens beleidigen.


Fried, Alfred H.: Mein Kriegs-Tagebuch. Band II: Das zweite Kriegsjahr (1. August 1915 bis 28. Juli 1916). Zürich: Rascher, 1919. p.1f.




ganz wie alfred hermann fried, dessen name programm war, das ihn folgerichtig zu friedensnobelpreis und desillusion führte, waren nicht alle am 02. august 1914 noch hochbegeistert oder schon tot; es ist immer faszinierend, wie sich manch einer dem wogen der massen entziehen kann.

man muss ortegas einschätzung der massen, ihrer vorgeblichen eigenschaften nicht folgen, es ist wohl auch kein phänomen der moderne, wenngleich durch das bevölkerungswachstum die dichte offensichtlich zugenommen hat, schon die perser sind mit riesigen heeren nach griechenland gezogen; wer immmer es vermochte, hat massen in bewegung versetzt. deswegen zieht sich auch eines durch alle zeiten: das anarchische element. es ist unabdingbar für die entwicklung der gesellschaft, es ist inspiration und belastungsprobe und kann deshalb geradezu als movens gelten. hier wirkt das besondere durch das allgemeine. wenn alle das falsche sagen, spricht einer das richtige; sind alle für das richtige, spricht einer wirr. das 'anarchische element' ist nicht per se positiv besetzt. auch hans paasche beispielsweise galt nicht überall sofort als lichtgestalt:




Paasches "Landesverrat" bestand einfach im Verbreiten radikal-pazifistischer Aufrufe in deutschen und feindlichen Schützengräben und in brieflicher Verbindung mit dem "Landesfeind" um dieser Sache willen. Die verwegene, leichtsinnige Offenheit, mit der er seine Gesinnung bekundete, zeigt sich z.B. in folgendem Zug: Im Jahre 1917 feierte er mit französischen Gefangenen, die auf seinem Gute Waldfrieden arbeiteten, den französischen "Freiheitstag", die Erstürmung der Bastille, wobei auf dem Herrenhaus seines Gutes (mitten während des Krieges!) die französische Trikolore wehte und die Marseillaise erklang.


Wanderer, O.: Paasche-Buch. Hamburg: Junge Menschen, 1921. p.39.




pazifist im krieg und pazifist danach, immer bereit für die nächste aufgabe:




Nun weiß aber das Volk, der Zeitungsleser, die Masse noch nicht, was überhaupt vorgegangen ist. Der Sinn der Revolution ist der Masse nicht klar. Gehirne, die 4 Jahre lang belogen und betrogen, auf die ein ganzes System von Verdummung losgelassen worden ist, die Herde, die von Kindheit an in dem Rahmen einer falschen Geschichtslehre stand, mit miltärischen Ideen großgezogen wurde, solche Gehirne lassen sich nicht in die Erkenntnis umsteuern oder umsetzen, indem sie einen Schlag vor den Kopf bekommen.


Rede des Genossen Paasche am 7. Dezember 1918. In: Scheidemann, Liebknecht, Haase, Berlemann, Paasche über die Revolution. 4 Redner behandeln das Thema "Ursprung und Verlauf des Krieges, sowie die Revolution und deren Ziele" nach ihren unterschiedlichen Parteistandpunkten. [Berlin, 1918]. p.38.




seinen worten zum trotz hatten die deutschen aus den fehlern der vergangenheit gelernt: hans paasches stets gediegenes auftreten, seine unablässigen mühen zur völkerverständigung, sein bedachtsames handeln im angesicht des völligen zusammenbruchs traditioneller regierungsformen und sein durchdachtes politisches programm machten ihn fortan zu einem der wichtigsten parteidenker der nachkriegsjahre und gipfelten letztlich in seiner kandidatur zur reichspräsidentschaft. als solcher trat er zeit seines lebens für die aussöhnung aller ehemaligen kriegsparteien ein - legendär wurde sein bruderkuss mit clemenceau unter tränen der rührung vor dem abendlichen élysée-palast wie sein kniefall in warschau -, förderte die politischen einigung europas als teil des völkerbundes und stand so am hart erkämpften beginn eines jahrhunderts des friedens. sela.





19.07.2014 13:20:06

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