mein erstes e-book

man sitzt im cafe, freut sich auf einen größeren eisbecher mit konventioneller schlagsahne, und die serviererin nimmt die bestellung mit smartphone auf. überall gibt es weniger zettel, selbst rechnungen werden als pdf verschickt. das ist das ende der papierzeit.

nach der steinzeit fand sich plötzlich reichlich bronze, doch äxte gab es immernoch, nur aus anderem material. auf papyrus zu schreiben, war wohl weniger mühselig, als umfangreichere texte in ton zu drücken; auch wenn papyrus verbrennen konnte, während tontäfelchen nach einem brand eher an haltbarkeit zulegten, setzte sich wegen des geringeren energieaufwands der leichter beschreibbare papyrus durch. pergament war relativ teuer. erst papier war nicht nur leicht beschreibbar, sondern obendrein in rauhen mengen herstellbar.

jetzt aber wird das papier nicht abgelöst, es fehlt einfach. [wie das h in den 'rauhen mengen', obwohl man es spricht - soweit man ein h sprechen kann.] das e-book ist die krönung der wegwerfgesellschaft, das buch wird schon vor dem konsum entsorgt, es ist entleibt, es bleibt die reine form. man sieht sich genötigt, die trennung des philosophen in form und stoff wieder aufzunehmen: der reader ist die immer neutrale hülle ['hyle' nach neuer rechtschreibung]; der text muss gesucht werden.

zweifelsfrei bietet es einige vorteile für die energiebilanz des einzelnen: so spart man sich nach verstörender lektüre den weg zum bücherbaum oder zur papiertonne und kann die missliebige datei einfach löschen. man kann sie auch im hintersten ordner jahrelang warten lassen, ohne dass es auffällt. man hält ständig tausend texte im arm und kann im urlaub immerfort wählen, während der konventionelle leser gewöhnlich sein einziges urlaubsbuch nicht bezwingt.

aber ihm wächst es vielleicht ans herz, und jeder spätere blick hinein verbindet sich möglicherweise zwanglos mit wunderschönen erlebnissen. fahrkarten und hotelrechnungen gehören zu den häufigsten lesezeichen, die man in büchern findet.








es ist eben eine frage der bequemlichkeit; immer hat man eine ganze bibliothek dabei. man kann sie durchsuchen, muss nicht mehr so viel im kopf behalten - und kann leichter glänzen. nicht zufällig erhebt sich heute häufiger das problem der plagiate. hier spricht der konsument.

man kann die schriftgröße ändern, falls sich der hund mal wieder auf die lesebrille gesetzt hat, und man kann sich die texte vorlesen lassen. das ist zwar, als würde man sich von fremden leuten die stullen schmieren lassen, aber auch das soll es geben, so dekadent es scheint. [sicherlich fände sich auch jemand, der sonntags pünktlich früh um neun in der tür steht, um das frühstücksei aufzuschlagen. sobald man nur für einen dienst geld bietet, meldet sich umgehend jemand, der diesen dienst verrichten möchte. doch geld sollte kein maß sein.]

der text existiert nun als datei in seiner reinen form; doch das ist keine höhere weihe, kein schritt in richtung des absoluten geistes oder ähnliches, es ist die leugnung von alter, autorität, tradition. dateien sind immer neu. sie sind porentief rein und duften nichtmal nach febreze oder sagrotan.

bücher riechen. nicht nur raucherexemplare sind vom zahn der zeit gezeichnet, kein buch entgeht ihm. sie tragen ihre geschichte mit sich; in gebrauchsspuren, lesezeichen, exlibris, 'anmerkungen von alter hand', am deutlichsten aber beim übergang in neue hände: den gegebenen anlass kann man unter umständen der widmung entnehmen, ob diese nun vom autor, übersetzer, nachbarn oder der gattin stammt.








andererseits kann das interesse hier zwanglos in blanken fetischismus übergehen, wenn beispielsweise ein buch signiert sein soll, obwohl man den autor nie gesehen hat, er vielleicht schon hundert jahre tot ist, oder das buch sonst irgendwelche äußeren merkmale erfüllen soll, wenn es etwa numeriert sein soll oder in leder gebunden oder in einer bestimmten reihe erschienen sein muss und damit weiteren bänden aufs äußerste ähneln wird.

das sammeln von reihen bedient den deutschen ordnungssinn; ob es nun die insel-bücherei ist, die andere bibliothek oder die abtei thelem, das buch wird zum ornament. eine derartige tapete mag eine zierde für jedes haus sein, doch da man wegen der vollständigkeit vor keinem buch der reihe zurückschrecken darf, dieses andererseits wegen seines guten zustands und teilweise horrenden preises ohnehin nicht angefasst werden darf, ist hier das andere extrem erreicht, das des reinen stoffes sozusagen.

stoff altert. wir hegen gewöhnlich eine unerklärliche achtung für das überkommene, alte, die sich zum exzess steigern kann, aber in ihrer normalform in anerkennung der tradition und dem damit verbundenen unwillen, alte fehler zu wiederholen, besteht. wir trauen unserer gewohnheit und unserer tradition, solange wir es nicht besser wissen.

deshalb ist es wünschenswert, vorgefundenes zu bewahren. ein altes buch binden zu lassen oder gar zu restaurieren, rentiert sich oft nicht: es lohnt nicht - unter finanziellen gesichtspunkten; es ist kein geschäft, und der käufer zahlt lediglich die kosten des buchbinders. doch es wird erhalten. beständigkeit ist gegeben, die kontinuität wird gewahrt.

natürlich müssen gewisse voraussetzungen erfüllt sein, so muss nicht nur der text lohnen, auch die eigene geschichte des buches wird bedeutsam; manch einem ist die persönliche zueignung im nachhinein dann doch nicht recht, und bei turnusgemäßem ende der eheähnlichen lebensgemeinschaft fliegen die in hormoneller hochstimmung geschenkten und gewidmeten bücher umgehend in die tonne. diese reaktion setzt nicht nur bei persönlichem, sondern auch bei politischem richtungswechsel ein: die widmung von armin t. wegner hat ein überaus vorsichtiger zeitgenosse wohl bereits nach wenigen wochen sorgsam überklebt, weil der autor verhaftet wurde.








natürlich kann man auch den ererbten, wohlerhaltenen prachtband veräußern und sich für das geld irgendwelche technischen geräte oder möbel aus presspappe kaufen, die in zwei, drei jahren neuen geräten oder möbeln weichen müssen, oder aber man bewahrt buch und andenken und gibt beides an die eigenen kinder weiter, die sich dann ihrerseits mit dem problem herumschlagen müssen, ob ein buch, das seit generationen in der familie ist, in kleingeld gewechselt werden muss. und wenn es dann noch ein ordentliches buch ist, das man nicht nur wegen des andenkens oder einer widmung als ballast mitschleppt, fällt die entscheidung doppelt schwer.

weiß man um die besondere geschichte eines buches, wird es einzigartig, verkauft man es aber, so geht wenigstens ein teil der geschichte dahin. wenn die erstausgabe von heines 'wintermärchen' seit über hundertfünfzig jahren in der familie ist und auch über die jahre der emigration gerettet wurde, ist die weitergabe dieses kleinen büchleins mit all seinen narben ein quasi symbolischer akt; man wird es in ehren halten. das ist mit dateien nicht möglich, aber die müssen auch nicht ins exil.

dateien kann man nicht übereignen, nur kopieren. man kann keine datei kaufen, man mietet lediglich die nutzungsrechte auf unbestimmte zeit - bis der strom alle ist. man meidet schon reihen wegen der zu erwartenden einförmigkeit, und dann soll die immer gleiche hülle auf verschiedene texte passen? - vom dreck der hüllenherstellung und künftigem energieverbrauch ganz abgesehen...

mein regal kann ich [in hoffentlich ferner zukunft] vererben, meine töchter können sich darum streiten und die bücher, die ich überlegt gewählt und im schweiße meines angesichts zusammengetragen habe, einzeln wieder verkaufen oder im andenken an ihre äußerst glückliche kindheit weiter nutzen und weiter vererben, während mein e-book schon längst in alle einzelteile zerlegt und in dieser form über ganz indien verstreut sein wird. niemand wird die dateien suchen.

diesen tiefsinnigen ansatz einer allgemeinen kulturkritik lassen wir mal als loses ende zur freien verfügung hier hängen.


16.08.2012 16:25:50

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