zum 80. geburtstag

von gert neumann: 'anschlag'.

rahmenhandlung ist ein osterspaziergang zweier zufällig miteinander reisender zum kloster chorin. und wer nun an goethe denkt, findet auch parallelen:
Ich dachte beim rückwärtsschauenden Anblick der zeitgemäßen Farbbeleuchtung unseres zweckmäßig vernunftgesicherten Pfades im Tal bei Kloster Chorin durch abgeworfene Umhüllungen von Schokoriegeln und lichtflirrend geknüllten Staniolpapierkugeln und entleerten Zigarettenschachteln und leise leicht liegenden Getränkedosen und einen an diesem Frühlingstag unerklärlich gescheiterten blaßblau überspannten Regenschirm ...
der satz läuft über 29 zeilen und kann hier wegen faulheit nicht vollständig wiedergegeben werden, aber es ist deutlich von der höhe rückwärts bunt, ganz wie bei goethe:

Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.

doch die nächste mögliche parallele, zu faust und wagner, verbietet sich, da zwar möglicherweise der begleiter als famulus taugt, der allmächtige ich-erzähler aber im gespräch mit ihm nicht in die dominante rolle eines faust geraten kann. hier herrscht eine andere kräfteverteilung, die eher an jacques den fatalisten und seinen herrn erinnert. ein indiz in dieser sache ist die 'vorsehung', die bereits im ersten satz erscheint und danach noch öfter, bemerkenswerterweise gerade im zusammenhang mit der deutschen bahn ag. und 24 mal, sofern sich google nicht verzählt hat, wird der begleiter mit "Mein Herr!" angesprochen.

das gespräch beider läuft auf mehreren ebenen, so werden kleinere erzählungen früherer erlebnisse in die rahmenhandlung eingeschoben, während sich der erzähler zugleich in diesem gespräch um das gespräch sorgt, sich gedanken macht, wie es geführt werden soll, und vorausschauend mehr oder minder behutsam eingreift. die dritte ebene ist das sprechen über die sprache, ihre form und ihr verhältnis zur wahrnehmung.

neumann hantiert auf 270 seiten mit immer denselben begriffen, und auf wenigstens einem viertel davon kommt eine wortform von 'möglich' oder 'unmöglich' oder 'ahnen', das immerhin eine möglichkeit impliziert, vor. er weiß, dass sein begleiter, als beobachter von land und zeit, sehen möchte, "wie sich in der Vergangenheit zwischen richtig und falsch irgendwie unterscheiden ließ." aber er kann ihn nur enttäuschen, weil diese begriffe in seinem wortschatz belanglos sind; so wie er im gegenzug probleme mit der sprache seines begleiters hat: "O ja–, ich weiß sehr genau, was Sie meinen. Doch das Erstaunliche, oder das Eigenartige, ist, daß ich das Verstandene niemals mit eigenen Worten wiedergeben könnte!"

an dieser beobachtung der inkommensurabilität zweier anscheinend gleicher sprachen hängen selbstverständlich weitere probleme. auf den beklagten "Schwerhörigkeitswahn der Welt" folgt zur allgemeinen bestätigung die aufforderung "Erklär mir Widerstand!" des begleiters mit auf die brust des erzählers zielenden zeigefingern. er hatte nicht richtig hingehört; statt des sinns verarbeitet er schlagwörter. offensichtlich kann eine gemeinsame sprache auch trennen. der erzähler spricht umgehend von "Rache, darauf zu achten, wie mein Begleiter es nun anstellen würde, seine Zeigefinger aus dem Gespräch zurückzuziehen".

nehme ich eine sprache an, nehme ich meine damit gegebene stellung an. dann gibt es unter umständen widerstand, wenn ich mich gegen meine vorbereitete stellung wehre. habe ich aber meine eigene sprache, vertrete ich meine stellung, und jeder, der mit mir ins gespräch kommen will, muss die gleiche arbeit zur verständigung aufbringen wie ich sonst allein: er muss meine autarkie anerkennen. so kämpft neumann nicht gegen die sprache, sondern setzt seine eigene gegen die offizielle sprache. erkenntnisgewinn ist letztlich immer sprachgewinn. es sind die erkenntnismüden, die ihre sprache nicht entwickeln. hieraus erklärt sich auch für ihn der allgemeine stillstand im osten, denn die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.

jede mögliche welt kann einfluss auf die wirkliche haben; diese wird eben nicht beschrieben, sondern ständig durch sprache konstituiert. hat jedenfalls wittgenstein gesagt. in der ddr erschienen neumanns texte inoffiziell. so arbeitete er am 'anschlag' mit, einer zeitschrift, die er von gleich zu gleich dem zensor auf den tisch legte; und natürlich bat er im selben atemzug um dessen mitarbeit für die nächste nummer. dieser 'anschlag' hat auch dem roman seinen titel gegeben, wobei die genaue bedeutung sich in möglicher mehrdeutigkeit versteckt:

zwar schwingt hier ein möglicher terroristischer hintergrund mit, aber auch eine bekanntmachung ist ein anschlag am gemeindebrett, wo sie öffentlich wird und das nächste gespräch bestimmt: allen kund und zu wissen. hier wird eine erzählung veröffentlicht. für diese variante spricht auch der umschlag des buches, auf dem manuskriptseiten abgedruckt sind, keine bilder von detonationen. aber auch der anschlag der buchstaben mit der schreibmaschine kann enorme wirkung entfalten, selbst wenn man nicht auf mehrere hundert anschläge pro minute kommt.

seine sprache wird durch einige eigenarten bestimmt, so scheint er weitere attribute nicht als aufzählung sondern gleichsam als apposition zu betrachten, so dass das objekt schließlich unmittelbar auf ein komma folgt: "eines gerade glücklich erkannten, sogenannten, Umspringbildes..." diese art der konstruktion zieht sich durch das gesamte buch. es gibt zudem sätze über zwanzig oder dreißig zeilen, die dann vor kommas strotzen und in ihrem erratischen bau zuweilen überfordern, möglicherweise auch schon den setzer; da es offensichtliche setzfehler gibt, beispielsweise "Geglegenheit", ist leider unklar, wie weit man den restlichen zeichen trauen darf.

das schweigen verhält sich etwa wie der absatz zum text; durch die unmöglichkeit der weiteren fortführung entsteht ein bruch in der stetigkeit, ein auslaufen der gedanken zu neuen prämissen. "Vielleicht ist es richtig, Ihnen zu erklären, daß für mich die Begegnung mit dem westlichen Schweigen voller Neuigkeiten ist oder war." in jeder antwort ist die frage noch enthalten, wenn schweigen aber erzählung evoziert, ist diese unbestimmt durch das vorderglied, es ist in der erzählung nicht enthalten. sie ist neu und voraussetzungslos, der mensch spricht frei.

manch einer braucht dazu den zwang durch die sichel am hals, sonst antwortet er bestenfalls. "Los, erzähle." im letzten kapitel erscheint die mittagsfrau, eine mythische gestalt der gegend, setzt ihm nach alter tradition eine sichel an den hals und zwingt ihn so, eine geschichte zu erzählen. sie erfährt die parabel des buches inklusive nicht fertigerzähltem ende. das ist für den, der kurz und bündig die geschichte lesen möchte, auf acht seiten. es ist, wie bei jacques dem fatalisten, ein epilog jenseits des buches. es ist nur eine zufällige erzählung, jenseits des offengehaltenen gesprächs.



02.07.2022 08:50:06

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